Jorinde VoigtKünstlerin
Für mich als Künstlerin sind die Begriffe Gewissheit und Vision aneinander gekoppelt – sie sind der Beginn jeder neuen Arbeit, sozusagen der Kern der Sache. Teilweise wartet man ziemlich lange, bis man das Gefühl von Gewissheit darüber hat, wie man anfängt. Daran geknüpft ist auch die Vision, was überhaupt möglich ist. Es gibt nämlich so etwas wie eine Vision für den Sinn: Erst grenzt man das Thema ein bzw. weiß man schon lange, dass man sich damit beschäftigen, aber nicht, wie man es angehen will. Dann gibt es verschiedene Methoden, sich dem anzunähern, um zu dem Punkt der Gewissheit zu kommen, dass das der richtige Ansatz ist, um das Thema aufzufalten. Teilweise passiert es fast nebenbei, dass man plötzlich weiß: Jetzt hab ich’s! Wenn dieser Moment der Gewissheit da ist, kann ich teilweise vier oder fünf Monate am Stück an diesem Thema arbeiten – und es ist ein einziger Flow. Ich kann aber auch vier bis fünf Monate oder länger auf diesen Punkt warten!
Oft sind bestimmte Arbeiten ganz spezifisch mit einer Vision verknüpft. Aber selbst wenn man sozusagen die Umrisse vor dem inneren Auge sieht, gibt es da noch keine Skalierung. Noch ist alles eher schattenartig, kann ganz klein oder ganz groß sein – doch gibt es so etwas wie eine Vorahnung, wo das hinführen könnte. Diese Ahnung wird gekoppelt an die Gewissheit, wie man dahin kommen kann, zum Beispiel, indem die Haltung zum Konzept wird. Natürlich ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Aber man weiß sozusagen, welche Straße man nehmen muss. Wenn sich dann die Gewissheit über den passenden Ansatzpunkt einstellt – also, das ist der tollste Moment! Dann endlich werden die Handlungsmöglichkeiten sichtbar. Oft ist es bis dahin ein monatelanges Herumeiern um das Thema. Dabei bilden sich allerdings auch viele Ansätze für zukünftige Arbeiten.
Aus diesem Moment der Gewissheit über das Wie, über die Methode, folgt dann eine Vision des Gesamten. Dadurch, dass es eine Ausrichtung gibt, gibt es natürlich eine Selektion, auch in der Handlung, weil du eine andere Realitätswahrnehmung hast und im gleichen Moment auch eine andere Realitätsbildung, indem du eine Fokussierung hast. Das ist schon interessant. Dadurch entsteht Dynamik in diesem Verhältnis von Gewissheit und Vision.
Ansonsten gibt es, meiner Beobachtung nach, überhaupt keine Gewissheit in dieser ganzen Kunstwelt. Das ist mir schon oft aufgefallen, und wenn man es noch einmal genau unter diesem Aspekt anguckt, lebt eigentlich die ganze Kunstwelt davon, dass es sie einfach nicht gibt. Die einzelnen Subjekte finden hier ihre subjektive Gewissheit, aber es gibt keine übergeordnete. Sie wird manchmal durch Behauptungen im Kunstbetrieb hergestellt; das basiert dann auf ganz bestimmten Parametern wie z. B. aktuell in der Ausstellung der Neuen Nationalgalerie: Die vier wichtigsten deutschen Maler. Da gibt es schon, wie ich meine, eine kollektive oder auf eine eigene Art auch sozusagen eine kuratierte Gewissheit. Doch ansonsten, wenn ich sehe, was ich mit meinem Publikum erlebe, existiert eigentlich eine extreme Unsicherheit, aber auch eine ausgeprägte Neugier auf die Dinge. Es scheint eine sehr große Suche nach Gewissheit zu geben. Und die scheint auch sehr dringend zu sein.
Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit Franz Kaiser über genau dieses Thema. Er sagte: Das System tötet sich selbst. Und ich war dann ganz erstaunt, als ich gemerkt habe … Es gibt so einen Punkt, wo ich das eben nicht sagen kann: Ich bin ja auch Teil des Systems. Für mich persönlich ändert sich überhaupt nichts in Bezug zu dem, was ich tue. Für mich hat, was ich mache, die immer gleiche Unbedingtheit und wird es immer haben. Denn das hat auch eine ganz bestimmte Funktion, eine Art Erkenntnisgewinn oder Erfahrungsgewinn und ist völlig unabhängig von irgendeinem Markt oder von irgendeiner Popularität oder von irgendwelchen Massen. Und ich glaube total daran, dass es diese Ausrichtung überhaupt immer geben wird. Denn ich bin bestimmt nicht die Einzige, der es so geht. Es kann sein, dass solche Leute wie ich in der Zukunft nicht unbedingt mehr in der Kunst zu Hause sind, sondern vielleicht mehr – ich weiß nicht – in der Informatik oder in anderen Bereichen, wo viel ausprobiert werden muss. Ich kann mir auch vorstellen, dass es so eine Tendenz gibt, dass eine bestimmte Art von Herangehensweise an die Welt nicht unbedingt nur in einer Sparte zu Hause ist, sondern sich von der Kunst auf etwas anderes verschiebt. Aber Kunst ist eh so ein weiter Begriff.
Ich glaube, es geht letztendlich ja wieder um eine bestimmte Haltung, und die gibt es sowieso in allen Bereichen; sie taucht immer mal wieder auf. Insofern könnte man sagen: Die Kunstszene, wie man sie heute kennt – okay, dann stirbt die eben. Die stirbt wahrscheinlich am Kommerz. Und die Leute, welche die tatsächlichen Fragen stellen oder die Auseinandersetzungen führen und die auch überhaupt nicht kommerziell arbeiten, werden in anderen Feldern tätig. Denn man hört ja nicht auf, diese Fragen zu haben. Jede Generation richtet sich auch neu auf die aktuelle Zukunft aus. Und ursprünglich wollte ich ja auch nie Künstlerin werden. Ich bin in diesem Feld gelandet, weil es eigentlich keinen anderen Bereich gab, in dem das unterkam, was ich so mache.