Grußwort der Kulturstiftung des Bundes

Über

Wie aus dem Nichts tauchte im November 2010 ein undurchdringbares Stück Stein unter der Schaufel jenes Baggers auf, der die Grube aushob für den Neubau der Kulturstiftung des Bundes auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen. Ein Findling trat dort zu Tage. Material: Granit. Gewicht: 8 Tonnen. Herkunft: 2.000 km nördlich, anders gesagt: aus der Saale-Eiszeit vor etwa 130.000 bis 200.000 Jahren.

Metaphorisch hätte der Eiszeit-Findling in Halle an keinen besseren Ort gelangen können: In Holland existiert das Wort »Foundling« – es bedeutet ausgesetztes Kind, Waisenkind. Ausgerechnet dort hatte August Hermann Francke – noch bevor er sein Hallenser Waisenhaus zu bauen begann – intensiv erforscht, wie die »foundlings« in holländischen Häusern erfolgreich zu Arbeit und sozialer Teilhabe erzogen wurden.

Auf diesen innereuropäischen Bildungs-Import des 17. Jahrhunderts geht nun die aktuelle Arbeit des holländischen Künstlers Marc Bijl im Rahmen der Ausstellung »Gewissheit. Vision« zurück:

Er stellt den erdzeitlichen Findling silberfarben auf ein Podest vor die Franckeschen Stiftungen und erinnert damit an eben jene neuzeitlichen »Foundlings«, die den Nukleus von Franckes Reformwerk ausmachten. Der Granitklotz, der tausende von Kilometern gereist ist, wird damit selbst zum Zeichen einer pietistischen Bildungsvision, die undenkbar wäre ohne zahlreiche Impulse aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland.

Marc Bijls Arbeit ist eine Art doppeltes Denkmal: Mit dem Findling verweist es einerseits darauf, dass August Hermann Francke mit allen Armen in die Welt gegriffen hat – nach Holland, England, Russland, Afrika und Indien, um einer mutigen Bildungsvision Gestalt und Dauer zu verleihen; andererseits verweist es auf die skandalöse Aktualität des Hallenser Reformators in einer Gegenwart, in der die Not von Kinderarmut und Fehlerziehung, mit denen Francke konfrontiert war, weder in Deutschland noch international für angemessen bewältigt gelten dürfen.

Es gibt viele Antworten auf die Frage nach der Aktualität von August Hermann Francke. Die von Marc Bijl gefundene künstlerische Umsetzung liegt der Kulturstiftung des Bundes verständlicherweise besonders nahe. Die besondere Qualität des Ausstellungsprojekts liegt jedoch nicht allein in der Vielfalt und Originalität der verschiedenen künstlerischen Positionen, die in Halle zu sehen sind, sondern auch im Mut der Franckeschen Stiftungen, gerade auch einen Jubiläumsgeburtstag zu nutzen, um die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Bildungschancen und Teilhabe, die den großen Theologen und Stiftungsgründer umgetrieben haben, heute erneut zu stellen.

Die Kulturstiftung des Bundes ist sehr froh, das Projekt »Gewissheit. Vision« fördern zu können. Wir danken den Franckeschen Stiftungen unter Leitung von Dr. Thomas Müller-Bahlke sowie dem kuratorischen Team unter Leitung von Peter Lang und Moritz Götze und sind sehr gespannt auf alle Schätze, die noch zu Tage treten werden, wenn Künstlerinnen und Künstler von heute aus im historischen Grund der Franckeschen Stiftungen zu graben beginnen.

Hortensia Völckers
Vorstand / Künstlerische Direktorin

Alexander Farenholtz
Vorstand / Verwaltungsdirektor