August Hermann Francke schuf in der Zeit um 1700 in der preußischen Provinz von Halle aus ein Reformwerk, das mit seiner internationalen Ausstrahlung, Vernetzung und seiner Wirkung bis heute einmalig ist. Sein global angelegtes Reformvorhaben in Bildung, Sozialfürsorge und Gesellschaft blieb nicht Theorie, sondern wurde handhabbare Tat und hatte kein geringeres Ziel als die Verbesserung der Welt an sich. Äußerlich sichtbar wurde und ist dies heute immer noch durch den Bau der architektonisch beeindruckenden und beispielgebenden Schulstadt mit dem berühmten Waisenhaus. Weltweit wirksam wurde sein Werk durch die Ausstrahlung und Verpflanzung seiner Ideen und Konzepte nach und in ganz Europa (Russland, Skandinavien, Südeuropa, Großbritannien), Indien und Nordamerika. Man kann von einem Reformwerk in globaler Dimension sprechen, das um 1700 Ideen transportierte und Kulturkontakte generierte.
Im Jahr des 350. Geburtstags des Gründers der Franckeschen Stiftungen stellt sich uns die Frage: wie kann man heute mit diesem ideellen Erbe umgehen und wo liegt seine Bedeutung in unserer globalisierten Gegenwart? Was können Franckes Strategien für eine allgemeine Bildung, eine Verbesserung der Welt durch allgemeine Vermittlung von Bildung heute bedeuten? Wo finden sich heute Gewissheiten und Visionen, die als Grundlage zu einer globalen Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen könnten? Gibt es sie noch oder leben wir in einer relativistischen, auseinanderbrechenden Zeit?
Dazu haben wir ein Experiment gewagt und diese Fragen mit international agierenden Künstlern aktuell gestellt. Gewissheit und Vision sind dabei Basisbegriffe für eine Recherche in der Geschichte und eine Herausforderung, deren Bedeutung heute zu finden, zu reflektieren. In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und Fragestellungen, die ganze Nationen und Kulturen betreffen und Millionen Menschen in Unsicherheit über ihre Zukunft setzen, und in einer andauernden globalen Strukturkrise des kapitalistischen Wirtschaftssystems, erscheint uns der historische Anlass des Francke-Jubiläums ein guter Ausgangspunkt zur Erarbeitung dieses Projektes – ausgehend von der Basis von Franckes Denken zu Glauben, Bildung und Fürsorge in globaler Dimension und dessen möglicher Aussagekraft für die Gegenwart.
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa in den frühen 90er Jahren, der Infragestellung traditio-neller gesellschaftlicher Strukturen in den bevölkerungsreichsten arabischen Flächenstaaten und gerade offensichtlich in einem Schlüsselstaat des Nahen Ostens wie der Türkei und einer sozialen Großattacke in Brasilien, dem wirtschaftlich wichtigsten Land Lateinamerikas, stellen sich grundsätzliche Fragen. Wenn Staaten wie Syrien und Ägypten mit ihrer großen Bevölkerung in andauerndem Chaos und Bürgerkrieg versinken, betrifft uns das weltweit. Und so wird es immer aktueller zu fragen, was heute Begriffe wie Gewissheit und Vision für eine Weiterentwicklung der Zivilisation bedeuten oder überhaupt sein können.
Dabei soll Francke der Ausgangspunkt sein, mit global denkenden und agierenden Künstlern, Natur- und Geisteswissenschaftlern, die sich mit allgemeinen Fragestellungen in ihrer Arbeit beschäftigen, gemeinsam darüber nachzudenken und eine Ausstellung zu erarbeiten, die ein breites Publikum erreicht und zu einem Gespräch über diese Fragestellungen einlädt. Mit den Kuratoren des Projektes und den Wissenschaftlern der Franckeschen Stiftungen werden die Künstler sich vor Ort dem Thema widmen, Werke und Präsentationen in situ erarbeiten. Das reicht von einer Fotoinstal-lation des russischen Künstlers Sergey Bratkov zur Kindheit in seiner Geburtsstadt Charkov über eine Installation tausender kleiner, roter Schaumstofffiguren des in New York lebenden türkischen Künstlers Serkan Özkaya, mit dem Titel »Proletarier aller Länder …«, bis zu einem verchromten Findling auf einem schwarzen Pentagramm des holländischen Künstlers Marc Bijl vor den Stiftungen sowie gegenüber der Kulturstiftung des Bundes.
Daneben sind Filme ein wichtiger Teil der Ausstellung. »Das Disintegration Loop 1.1« des New Yorker Klangkünstlers William Basinski ist ein außergewöhnliches Werk zu 9/11, ein Video der Prager Künstlerin Adela Babanova, »Return to Adrianopel«, das eine unglaubliche Vison der Tschecheslowakei der 70er Jahre aufnimmt, den Bau eines Tunnels bis zur Adria. Der italienische Künstler Christian Niccoli setzt in seinen kurzen und sehr stringenten Videos allgemeine Fragen zu Kollektivität, Balance und Bedrohung in Bilder um. Via Lewandowsky beschäftigt sich in einer Klanginstallation, die einen Wald aus Lautsprechern darstellt, mit der Verbindung von Musik, Gesang und Gehirn.
Der Hallenser Künstler und Clubbetreiber Gabriel Machemer wird im Oktber 2013 im Zentrum Halles, in der Nähe des Marktes, ein Porträtatelier einrichten, das beständig betrieben wird und feste Öffnungszeiten analog einem Ausstellungs-, Geschäfts-, oder Galerieraumes hat. Im Laufe der Zeit werden kontinuierlich fiktive Porträts ehemaliger Schüler der Franckeschen Schulstadt entstehen. Grundlage dafür ist die Publikation »Man hatte von ihm gute Hoffnung …«, Das Waisenalbum der Franckeschen Stiftungen 1695 – 1749. In diesem Buch finden sich prägnante und psychologisierende Kurznotizen zu Herkunft, Entwicklung und Lebensläufen der Schüler.
Einem breiten und vor allem jugendlichen Publikum soll mit Hilfe der Strategien und Werke zeitgenössischer Künstler und der umfangreichen Interviews mit Natur- und Geisteswissenschaftlern, die in der Ausstellung in einer Installation von Moritz Götze auf DJ- Plattenspielern angehört werden können, ein geschichtlicher Gegenstand in seiner Dimension zu heute sichtbar werden. So kann ein kulturgeschichtlicher Rückgriff den kritischen Blick auf Gegenwart und Zukunft eröffnen und schärfen.
Peter Lang
Kurator