Philipp OswaltArchitekt
Wir glauben an mehr Gewissheiten als es tatsächlich gibt. Durch die Stabilität unseres Gesellschaftssystems, für das ich sehr dankbar bin, sind wir sehr stark, glaube ich; aber es ist historisch auch eine sehr ungewöhnliche Situation! Ich bin Westdeutscher, muss man dazusagen, 1964 geboren. Das heißt: Seit ’45 Frieden, Wohlstandsentwicklung ohne große Krisen – darin bin ich aufgewachsen. Das ist eine Kontinuitätserfahrung, die etwas Verführerisches hat. Insofern habe ich eigentlich schon den Eindruck, dass diese Entwicklung nicht endlos sein wird und dass wir allgemein viele Gewissheiten annehmen, die sich doch in dieser, der nächsten oder übernächsten Generation wieder auflösen werden. Es gibt auch ganz klare Punkte, an denen ich das festmache. So erweisen sich beispielsweise bereits Alltagsdinge, mit ein bisschen innerem Abstand betrachtet, weit weniger kontinuierlich, als man denkt.
Interessant, einen Blick darauf zu werfen, ist auch die Architektur-Biennale im nächsten Jahr. Sie wird von Rem Koolhaas kuratiert. Er hat für die Nationenpavillons die Idee aufgeworfen, sich mit der Geschichte der letzten 100 Jahre zu befassen. Alles steht zunächst unter dem Arbeitstitel Absorbing Modernity. Ich habe mich gefragt: Wie würde ich dieses Thema angehen? So habe ich den Projektvorschlag gemacht, es anhand der Patente anzugucken. Patente sind ja die rechtliche Absicherung von Erfindungen, vor allem technischen Erfindungen, und sie sind insofern sehr interessant, weil sie eigentlich eine Dokumentation der ständigen Modernisierung, der Moderneentwicklung sind, indem immer wieder neue Dinge entwickelt werden. Wenn man zum Beispiel Architekturen hernimmt – wobei, es werden ja keine Architekturen patentiert, sondern, was weiß ich, zum Beispiel eine Glasscheibe. Also, die Herstellung einer Glasscheibe, die Doppelverglasung, die Beschichtung des Glases, die Glasfüllung etc., das sind solch konkrete Sachen. Das heißt, man hat allein im Bauwesen in den letzten 100 Jahren eine knappe Million an Patenten und Patentanmeldungen. Das ist sozusagen die zentrifugale Kraft der Modernisierung. Ich meine dies nicht als stilgeschichtliche Frage! Seit Beginn der Moderne um 1800 haben wir uns durch diese ständigen Erneuerungen vielmehr von Traditionen entfernt und die technische Entwicklung ist dabei ein wesentlicher Faktor.
Wenn wir beispielsweise das Bauhaus in diesem Lichte betrachten, dann ist dies ein Gebäude, in dem eben nicht die technische Innovation qua Erneuerung im Sinne der aktuellen Erfindungen der Zeit propagiert wurde. Das Haus ist 1926 gebaut worden, und zwar nicht an der trading edge der Technologie jener Zeit. (Das ist übrigens etwas, das der Erfinder und Architekt Buckminster Fuller am Bauhaus kritisiert hat.) Man könnte vielmehr sagen: Das Bauhaus ist eine Spolienarchitektur der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Das, was man hier findet, sind Elemente, die sich im Kontext der Industrialisierung, auch des Industriebaus des 19. Jahrhunderts, herausgebildet haben. Da könnte man natürlich degoutant die Nase heben uns sagen: Was hat denn Herr Gropius gemacht, er war doch gar nicht so progressiv, wie er sich immer darstellte, sondern er hat sich eigentlich auf eine historische Spur in der Architektur gemacht. Aber das wäre eine Fehleinschätzung! Es scheint eine wesentliche Leistung des Architekten zu sein – und das war ja sehr ausgesprochen am Bauhaus –, wieder die Gesamtheit zu suchen. Wenn ich davon spreche, dass jene Erfindungen die zentrifugale Kraft der Modernisierung sind, sehe ich auch, dass wir es mit lauter Fragmenten zu tun haben. Das heißt, es geht um lauter Erfindungen in Einzelbereichen. Und das unterminiert eigentlich, was die Gesellschaft an Konsistenz hervorgebracht hat. Hier sehe ich die tragende Rolle des Bauhauses, wo versucht worden ist, Reintegration in eine neue Gesamtheit und damit auch eine gewisse Sinnstiftung zu begründen. Insofern ist dieser bekannte Slogan von Gropius – Kunst und Technik, eine neue Einheit – nicht eigentlich eine große Utopie, sondern zunächst einmal die Benennung eines Konfliktfeldes. Die Technik hat nämlich durch ihre ständige Erneuerung diese Einheit sozusagen aufgesprengt und bringt eigentlich die Suche mit sich, diese Einheit wieder neu zu definieren. In der Moderne kann dieses Konsistenzversprechen nicht mehr aus der Tradition heraus geleistet werden – deswegen dann der Traditionsbruch. Doch der Traditionsbruch ist nicht etwas aus dem Bauhaus oder den Avantgardisten der Moderne heraus, die diesen sozusagen forcieren, sondern diese ziehen eigentlich die Schluss-folgerung aus etwas, das zivilisatorisch schon längst stattgefunden hat.
Wir brauchen keine Utopien der Erneuerung. Die Erneuerung findet von sich aus statt durch dieses wirtschaftlich-technische System, das die Moderne auszeichnet. Utopien sind eigentlich Stabilisierungs- und Reparaturversuche. Das wird auch jedem Menschen auf der Straße klar: Nehmen Sie den Klimawandel – die Utopie der Erderwärmungsbegrenzung um zwei Grad Celsius ist ein großes Konservierungsmodell und setzt natürlich radikale Veränderungen in vielen Lebensbereichen voraus. Oder wenn man sagt, dass wir im Anthropozän leben, in dem es allerdings keine Weltregierung gibt, in dem das menschliche Tun einen Einfluss hat auf das, was auf dem Globus passiert, in der Akkumulation dieser jetzt sieben Milliarden, in Zukunft wohl neun Milliarden Menschen – das ist ja etwas, das jede Vorstellungskraft sprengt! Wie soll ich mich in ein Gesamtgeschehen einbringen, wo ich weiß, ich bin nur ein Neunmilliardstel, aber andererseits weiß: Es gibt eigentlich nicht die große Instanz eines Gottes, einer Weltregierung, die diesen Laden zusammenhält. Dann fällt doch diese Verantwortung wieder auf jeden Einzelnen zurück. Was ist dann eigentlich ein sinnvolles Verhalten? Das ist schwer vorstellbar. Auch zu wissen, dass, was ich tue, sich über Jahrhunderte hinweg auswirkt, ist konkret schwer vorstellbar. Das ist echt schwierig! Durch die Mittel, die wir als Menschheit entwickelt haben, kommen wir plötzlich in Entscheidungssituationen, die unserer Vorstellungskraft bislang völlig entzogen sind. Das empfinde ich irgendwie als einen Widerspruch, den ich für mich auch nicht auflösen kann. Das wäre dann sozusagen meine Utopie in meiner Arbeit, zu gucken: Kann ich darüber irgendwie ein sinnvolles Modell, ein Verständnis entwickeln? Eines, das eigentlich überhaupt sinnhaft ist. Oder ist es eine unlösbare Aufgabe?
Die Frage ist in der Tat, wie eine Kultur mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen lernt. Und ich glaube: Das ist etwas, das wir wieder mehr lernen müssen! Ich meine, dass es Ostdeutschland durch die politischen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre viel besser gelernt hat als der Westen, weil es natürlich durch heftige Transformationserfahrungen gegangen ist. Das hat der Osten dem Westen voraus, sozusagen ein Training, mit Veränderungen, auch mit Unsicherheiten umzugehen. Ich glaube, da hat der Osten kulturell dem Westen wirklich einiges voraus!