Nr.3

INTERVIEW

Jochen HörischMedienwissenschaftler

Nichts ist so gewiss wie der Umstand, dass alles ungewiss ist. Bei einer Vision weiß man nicht, ob es ein psychiatrisch-therapiebedürftiger Ausnahmezustand oder ob es eine verbindliche Vision ist. Offenbar haben sehr viele Leute das Bedürfnis, so etwas wie eine Leitvision zu haben. Man muss sich ja deutlich machen: Vision heißt, einen Zukunftsentwurf zu haben, den man plausibel machen kann. Dem müssen viele zustimmen können, das müssen viele für überzeugend halten. Wir müssen erst einmal eine Gewissheit darüber haben, welche Art von Vision wir brauchen. Ich denke, es gibt schon so etwas wie einen kollektiven Lernprozess, dass man erkennt, dass eine größere Ansammlung von Menschen, die einfach nicht mehr wissen, was sie wollen und wozu sie da sind und ob sie gebraucht werden, der Inbegriff der Traurigkeit ist und häufig auch der Inbegriff von mittleren Katastrophen. Immer wenn wir große politische, menschheitsbeglückende Visionen hatten, konnte man ja wissen, dass das Destruktionspotenzial darin erheblich ist. Ich weiß, dass Russland nach der Implosion der Sowjetunion geradezu einen Wettbewerb ausgeschrieben hat: Was ist eigentlich jetzt die neue Idee, die neue Vision, für die wir nach dem Kollaps des staatszentralistischen Kommunismus leben wollen? Wenn sozusagen eine Idee implodiert ist, eine Vision als nicht lebbar oder als kontraproduktiv erfahren worden ist oder sogar als destruktiv, dass man dann guckt: Was sind die alten Traditionsnetze, die einen auffangen können? Man merkt, dass es nach Avantgardeschüben auch immer so etwas gibt wie eine retrograde Bewegung.

Spannend finde ich beispielsweise die Besinnung auf den Protestantismus nach der Implosion der DDR; ich nenne Namen wie Eppelmann, Stolpe, Merkel, Gauck. Bemerkenswert, dass lauter Kirchenleute in solche entscheidenden Positionen reinkommen. Ich glaube, hier haben wir sozusagen ein altes Angebot semantisch politischer, visionärer Art. Der Protestantismus ist wahrscheinlich nüchtern genug, dass er sein Konto nicht überzieht. Man kann ja manchmal Protestantismus von einer bestimmten Art von Sozial-arbeit nicht mehr unterscheiden. Das macht ihn aber auch erfolgreich.

Man kann also ansatzweise aufzeigen, dass die Visionen der mittleren Qualität, die man wirklich realisieren kann, in the long run besser überzeugen als die ganz großen ästhetischen Erlösungsvisionen: weg von den allzu groß geratenen Visionen, aber auf keinen Fall ohne Visionen, ohne Vertrauen. Ohne Credo kann man nicht leben! Ich kann ja nicht wach werden und mir die Zähne putzen, wenn ich systematisch Misstrauen hätte und denken würde, das Leitungswasser wäre vergiftet oder so. Da wäre ich ja sofort auf der Psychiotiker-Seite. Wir können auch auf einer ganz funktionalen Ebene eigentlich ohne Vertrauen, ohne Gewissheit gar nicht leben. Wir müssen natürlich auch gucken, wie wir Gewissheit mit einer gewissen Form von Misstrauen kombinieren können. Da wird man automatisch Dialektiker und sagt, man kann wiederum zu star-kem Misstrauen misstrauen. Ich würde anstreben, einen durchaus ernüchterten funktionalen Begriff von Vision und von Gewissheit zu haben.

»In God we trust« steht auf den amerikanischen Dollarnoten. Das Geld selbst ist beglaubigungsbedürftig. Und wenn alle anfangen, dem Geld zu misstrauen, funktioniert es nicht mehr: Wenn die Banken untereinander keinen Geldhandel mehr haben, weil sie über gute Informationen verfügen und das eine Bankhaus dem anderen misstraut, ja gut, dann haben wir eben die Finanzkrise von 2008! Wenn man den Staatsfinanzen als letzter Stabilisierungsinstanz mit Misstrauen begegnet – aus gutem Grund, ich erwähne nur Portugal und Griechenland –, haben wir ein großes Problem, nämlich: Wer rettet den Retter? Da bietet einer Visionen der Rettung, der Erlösung an, und man misstraut dann dem letzten Retter. Und dann wird die Sache sehr spannend.

Bei der Eurokrise sehe ich das Problem der Staatsverschuldungen. Diese kommen zustande, weil wir einen Wahnsinnszuwachs bei Privatvermögen haben, aber einen Rückgang der Einkommensmöglichkeiten der öffentlichen Hand. Wir haben das Problem der privaten Hand, und in dieser sind erhebliche Vermögen. Und wir haben das Problem der öffentlichen Hand. Diese hat alles zu garantieren, was Infrastruktur angeht, Schulen, Straßen, Kunstbetrieb, öffentliche Sicherheit und dergleichen mehr. Aber die öffentliche Hand ist immer schlechter alimentiert. Und man merkt, dass eine weitere Hand, nämlich die Unsichtbare Hand des Marktes, die berühmt-berüchtigte invisible hand, offenbar nicht mehr so funktioniert, wie sie eigentlich funktionieren sollte. Das sieht man ja wiederum auch an der Metapher, dass sehr viel theologisch-religiöse Überzeugung in die Markt- und in die Geldsphäre einfließt, denn die unsichtbare Hand ist eigentlich ein altes Prädikat für den Lieben Gott, in dessen Hand wir sind. Und die Intelligenz Gottes ist der irdischen Intelligenz so überlegen, dass wir nicht arrogant werden und glauben dürfen, den Lieben Gott verstanden zu haben. Nach der alten Konzeption ist die Intelligenz des Marktes so überlegen, dass wir nie und nimmer die Intelligenz der invisible hand erreichen können. Das wäre sozusagen das finanztheoretische Glaubenskonstrukt. Und jetzt merken wir – ich bleibe bei der Hand-Metaphorik (Manipulation, lat. manus, die Hand) –, dass wir eben keine un-sichtbare Hand haben, die für ausgeglichene Zustände zwischen Angebot und Nachfrage usw. sorgt, sondern dass wir unfassbare Halb-Kriminelle haben, die Hand anlegen und handgreiflich werden und die sich Geld von der Allgemeinheit – Umverteilung von unten nach oben – zu eigen machen. Also der gute alte 68er-Begriff der Manipulation – ich glaube, dass dem eine neue Karriere bevorsteht. Das hängt natürlich mit Verlust an Gewissheit und Verlust an Visionen zusammen.

Wir haben ja jetzt z. B. diese Skandale, etwa den irischen Bankenskandal, wo schon bis in die Sprache hinein deutlich ist: Das sind keine Visionäre, sondern es ist, mit Verlaub, ein ordinäres, stilloses, unerzogenes, geldgieriges Pack – es sind Bankster. Das ist keine Beschimpfung, sondern eine analytisch richtige Beschreibung. Und ich glaube, es ist das Entsetzen, welches viele Leute umtreibt, wenn sie merken, aha, die müssten eigentlich eine Vision haben davon, wie man Globalisierung gestalten kann, wie Schwellenländer besser werden, wie wir die demographischen Probleme lösen und, und, und. Und man merkt, die haben die ordinärsten Selbstbereicherungsphantasien – also schlechterdings keine Phantasie!