Via Lew-
andowsky
»Anstimmen«
Via Lewandowsky hat in der Ausstellung eine 80-Kanal-Soundinstallation inszeniert. Ausgangspunkt für das Klangmaterial ist der aufgezeichnete Kammerton »a« als Gesangs- und Instrumentalton von über 80 Schülern des Musikgymnasiums Latina August Hermann Francke in Halle. Nur durch die Einstimmung auf einen gemeinsamen Ton ist ein Zusammenspiel überhaupt möglich. Der einmal angegebene Ton, von einem Musizierenden an die anderen weitergegeben und von ihnen imitiert, will die klangliche Einheit des individuellen Ausdrucks aller Beteiligten. Es entsteht ein Klangbild, das es nur so jenseits der Möglichkeiten des Einzelnen gibt.
Wie Musik im Gehirn spielt?
Noch kennen Neurowissenschaftler die Wahrheit nicht. Zumindest aber lernen wir in den letzten Jahren immer mehr darüber, wo und wie das Gehirn Musik verarbeitet. Dabei ergänzen sich Beobachtungen an Hirnversehrten und Studien mit gesunden Testpersonen, deren Gehirnaktivität mit bildgebenden Verfahren dargestellt wurde. Eine große Überraschung war, dass im Gehirn offenbar kein spezielles Musikzentrum existiert. Wenn der Mensch Musik hört oder ausübt, sind etliche, weit verteilte Areale aktiv, auch solche, die sich normalerweise mit anderen kognitiven Aufgaben befassen. Wie sich außerdem herausstellte, ändern sich die aktiven Berei-che abhängig von Erfahrung und musikalischer Betätigung. Bei der geringen Zahl der Hörzellen ist das besonders erstaunlich. Kein anderes Sinnesorgan benutzt so wenige Sinneszellen wie das Ohr. Im Auge sitzen rund 100 Millionen Lichtrezeptoren. Die Haarzellen im Innenohr kommen lediglich auf etwa 3500. Doch das genügt, damit das Gehirn sich verändert, sodass es schon nach kurzen Musikübungen künftig mit musikalischen Eindrücken anders umgeht. In dieser Hinsicht sind wir bemerkenswert anpassungs-fähig – unser Gehirn ist für Musik auffallend plastisch.
Wenig ist noch darüber bekannt, wie Musik Emotionen auslöst. Pionierforschung auf dem Gebiet leistete Anfang der 1990er Jahre der Musikpsychologe John A. Sloboda von der Keele University in Staffordshire (England). Vier von fünf befragten Erwachsenen kannten aus eigenem Erleben, dass Musik sie stark erregte oder erschütterte, dass sie Schauder, Lachen oder Tränen hervorrief. Forscher spielten Versuchspersonen Musikstücke vor, die vermeintlich Freude, Traurigkeit, Angst oder Spannung ausdrücken. Zugleich maßen sie unter anderem Herzschlag, Blutdruck und Atmung. Und wirklich zeigten die Teilnehmer, je nach Kategorie, andere körperliche Reaktionen, aber bei derselben Kategorie jeweils ein ähnliches Muster.
Viel Beachtung fand eine Studie von Blood und Zatorre an Musikern über das Hochgefühl beim Musikhören. In solchen Momenten glich deren Gehirnaktivität teilweise dem Zustand im Zusammenhang mit gutem Essen, sexueller Betätigung oder auch Drogenkonsum. Die Freude, die Musik geben kann, aktiviert einige derselben Schaltkreise des sogenannten Belohnungssystems unseres Gehirns.
All diese Befunde weisen auf eine biologische Grundlage für Musik hin. Das Gehirn scheint darauf angelegt zu sein, sich mit Melodien, Rhythmen und Klängen zu befassen und Emotionen auszulösen. Eine Reihe von Hirnregionen beteiligt sich an der Verarbeitung, wobei jede spezielle Aufgaben übernimmt – so viel kristallisiert sich bereits jetzt heraus. Dass Musikergehirne anscheinend zusätzliche Spezialisierungen aufweisen, insbesondere dass sich einige Strukturen größer als normal ausprägen, ist nicht zuletzt für die Lernforschung aufschlussreich. Beim Erlernen von Tönen und Klängen wird das Gehirn neu gestimmt. Dann verschieben einzelne Neuronen ihren Antwortbereich, und insgesamt reagieren bei wichtigen Klangereignissen mehr Zellen der Hirnrinde. Die Hirnforschung wird dazu beitragen, mehr über die Musik selbst zu erfahren – auch darüber, wie viele Facetten sie hat und warum es Musik gibt.
Textauszüge von:
Norman M. Weinberger, Spektrum der Wissenschaft, 2005