William Basinski
Bei der Archivierung und Digitalisierung analoger Tonbänder, die ich 1982 angefertigt hatte, entdeckte ich ein paar wunderbar ländliche Stücke, die ich längst vergessen hatte, da ich sie nie zuvor gehört hatte. Vor meinem geistigen Auge dehnten sich plötzlich atemberaubend weite, kinoreife amerikanische Ideallandschaften aus. Aufgeregt begann ich, die erste Tonschleife auf CD aufzunehmen und daraus ein neues Stück mit einer beliebigen, subtil arpeggierten Gegenmelodie aus dem Voyetra zu mischen. Zu meiner Überraschung und meinem Entsetzen merkte ich bald, dass das Band sich auflöste: Beim Abspielen verwandelten sich die Eisenoxide in Staubpartikel, die in den Recorder fielen und Leerstellen auf dem Band hinterließen, welche als Aussetzer in den entsprechenden Stellen der neuen Aufnahme zu hören sind. Ich hatte von ähnlichen Vorfällen gehört und befürchtete, ehrlich gesagt, dass es mir auch so ergehen könnte, da viele meiner frühen Arbeiten sich gefährlich nah an ihrem Verfallsdatum bewegten, doch bis dahin war es mir erspart geblieben. Und nun plötzlich das! Die Musik war im Sterben begriffen. Ich war dabei, den Tod einer mitreißenden Melodie aufzunehmen. Das war eine sehr emotionale und auch mystische Erfahrung für mich. Tief in diesen Melodien verwoben lagen meine Jugend, mein verloren gegangenes Paradies, die idyllische amerikanische Landschaft – allesamt im Begriff, sanft, würdevoll, wundervoll zu sterben. Leben und Tod wurden hier als ein Ganzes aufgenommen: der Tod als normaler Teil des Lebens, eine kosmische Verwandlung, eine Transformation. Als die Auflösung vollendet war, blieb vom Tonkörper nichts als ein schmaler Streifen aus klarsichtigem Plastik mit ein paar Akkorden, die sich verzweifelt festklammerten; die Musik hatte sich in Staub verwandelt, der als Häufchen und Klümpchen den Laufpfad des Tonbands säumte. Doch das Wesen und die Erinnerung an Leben und Tod dieser Musik war gerettet worden: auf ein neues Medium übertragen, erinnert.
William Basinski
New York, 2001
Nachtrag
Am 11. September 2001 stand ich auf dem Dach meiner Wohnung in Brooklyn, weniger als eine Seemeile vom World Trade Center entfernt, unserem Fanal, unserem Kompass. Der Turm, der hoch über alle anderen Türme in New York ragte, mein Nachtlicht. Meine Nachbarn und ich wurden Zeugen des Untergangs der Welt, so wie wir sie kannten. Vor unseren Augen brachen diese gewaltigen Strukturen zusammen; an diesem kristallklaren Tag beobachteten wir eine uns unverständliche Veränderung der Landschaft: So wie ein Vulkan, der hinter Bäumen verschwindet, sahen wir diese wunderbare minimalistische, von Menschenhand erschaffene Struktur verschwinden. Wir waren entsetzt. Trotz der katastrophalen Brände ahnten wir nicht, dass die gigantischen Gebäude in sich zusammenfallen, dass sie hinter der Skyline von Lower Manhattan einstürzen würden. Aber genau dies geschah. Wir waren in einem Schockzustand. Wir saßen auf Gartenstühlen auf der Dachterrasse und sahen, wie das Feuer die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen loderte, während im Hintergrund die Disintegration Loops liefen. Das menschliche Ausmaß der Katastrophe konnten wir damals nicht einmal ansatzweise erahnen. Das kam alles später, zusammen mit den Tränen und dem Schmerz. Da war es, das »Ende der Welt«, von dem wir wussten, dass es früher oder später kommen würde: Wir hatten es vergessen, doch mit einem Schlag war es zurück in den Köpfen. In den folgenden Tagen und Wochen sah ich, wie meine Freunde und ich in unseren persönlichen Schlaufen aus Angst und Terror zerfielen – jeder auf seine eigene Art und Weise, mit seinen eigenen Worten, zu seiner eigenen Zeit. Ein nicht enden wollender Alptraum. Ein Weckruf, den niemand bestellt hatte. Die Herzen der Menschen waren gebrochen, und mit einem Mal verschwanden der Egoismus, die Arroganz, die Hässlichkeit. Was blieb, waren aufrichtiges Mitgefühl, Güte und Liebe füreinander – das, was Menschen aus uns macht. Das Ende einer Ära: ein neuer Anfang.