Nr.5

INTERVIEW

Helmut
ObstTheologe

Allgemeiner Auffassung nach gibt es heute wenige Gewissheiten. Laut der Meinung vieler zeichnet sich unsere Zeit durch das Schwinden von Gewissheiten, von festen Punkten aus. Das hat natürlich verschiedene Ursachen, dennoch muss man fragen, ob das wirklich so ist. Gewissheiten hängen nach meiner Überzeugung immer mit Weltbildern und mit Weltanschauungen zusammen. Ohne eine entsprechende Weltanschauung gibt es Gewissheiten nicht. So war es auch schon zu Franckes Zeiten. Franckes Gewissheit kam natürlich aus seinem christlich-biblischen Weltbild und das bestimmte sein Leben, sein Denken, sein Handeln und auch seine Visionen. Wenn jetzt jemand ein anderes Weltbild hat, beispielsweise ein materialistisches, werden seine Gewissheiten, seine Visionen letztlich einen ganz anderen Charakter haben.

Aber in den letzten Fragen ist das jeweilige Weltbild entscheidend. Deshalb gibt es vielleicht zwei Grundhaltungen. Die einen sind mit dieser Analyse zufrieden und werden zu Agnostikern oder zu Konsummaterialisten, die sagen, mit Gewissheit kann man überhaupt nichts mehr festmachen in dieser Welt. Und die anderen suchen nach neuen Gewissheiten. Diese Suche nach neuen Gewissheiten finden wir ja auch in Teilen der fragenden Jugend. Das sind zweifellos nicht die meisten der Jugendlichen. Es ist interessant, dass z. B. in den 1970er, 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts sich die sogenannten Jugendreligionen etabliert haben. Für mich als Theologen und Religionswissenschaftler natürlich besonders interessant: religiöse Gruppen, meistens asiatischer Herkunft, die in Teilen der Jugend, die alle Gewissheit verloren glaubten, großen Effekt hervorriefen und viel Zulauf hatten. Es ist interessant, man hat das untersucht, dass dies in der Regel Jugendliche waren, die aus der Alternativszene kamen, die sich also gegen die bürgerliche oder sonstige Prägung ihres Elternhauses gewehrt und das abgeschafft haben, die auf die Straße gegangen und alternativ geworden sind, keine Gewissheit mehr hatten und nun nach neuen Gewissheiten suchten. Es bleibt immer die Frage: Wo finde ich diese neuen Gewissheiten? Die kann ich in Ideologien finden! Wir haben ja das Phänomen auch in der Politik. Denken Sie heute an das Problem des Rechtsradikalismus, wo es ja nicht zuletzt junge Leute sind, die sich diesen Bewegungen zuwenden. Wir haben dieses Phänomen auf dem Gebiet der Religion, wo es interessanterweise gerade in neopietistischen und charismatischen Kreisen ja viele junge Leute gibt, junge Familien. Und wir sehen das auf der anderen Seite in jungen philosophischen Entwürfen, die sich neu mit der Wissenschaft und ihren Grenzen auseinandersetzen. Es gibt Rückgriff auf Gewissheiten, aber das ist kein Massenphänomen, sondern lediglich eines von Kreisen, die sich bemühen, über das Leben, über sich selbst, über die uralten Grundfragen der Menschheit – wer bin ich, wo komme ich her und wo gehe ich hin – nachzudenken. Und die kommen durchaus zu unterschiedlichen Gewissheiten und zu verschiedenartigen Ergebnissen. Gewissheit kann auch in Fanatismus enden, aber muss es durchaus nicht. Gewissheit darf nur nicht unduldsam werden. Ist jemand davon überzeugt, wie ich persönlich es bin, dass er eines Tages über sein Leben, sein Denken, Fühlen und Wollen, über seine Motive Rechenschaft geben muss, und auch davon, dass es hier eine ausgleichende Kraft und Macht gibt, dann wird dieser Mensch versuchen, sein Leben anders zu gestalten als jemand, der sagt, Gewisses gibt es nicht.

Es ist noch nicht lange her, da glaubte man im sozialistischen Lager verkünden zu können, es gäbe eine wissenschaftliche Weltanschauung. Die Wissenschaft hätte alles erforscht – wohlgemerkt, die Naturwissenschaft – und was sie festgestellt hat, wäre gewiss und gegeben. Es werden auch wirklich bedeutende Leute der verschiedenen Naturwissenschaftsbereiche (es müssen aber in der Regel bedeutende sein) bestätigen, dass auf der einen Seite das Wissen, das ja irgendwo mit Gewissheit zu tun hat, immens gewachsen ist – aber auch, dass die Gewissheiten selbst radikal abgenommen haben. Ein Phänomen, das man freilich wieder weltanschaulich deuten kann und das ich aus meiner Position natürlich auch so interpretiere: Die Wissenschaft, auch die Naturwissenschaft, kann nie und nimmer Fakten, gewisse Fakten philosophischer Art geben, die nicht zu hinterfragen sind. Und auch hier stehen wir aus meiner Sicht vor dem Phänomen, dass das Dichterwort gilt: Das ist das Ende der Philosophie, dass wir schließlich glauben müssen. So geht es dem religiösen Menschen und so geht es dem rein naturwissenschaftlich Denkenden, denn die Tragweite und die Grenzen der Naturwissenschaft sind ja absolut begrenzt auf die materielle Welt und ihre Randgebiete. Und über dieses hinausgehend kann ich das als Christ und können sie als berühmte Wissenschaftler das nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Hier stehen wir beide vor der gleichen Wand und hier ist für beide der Glaube gefordert.

In der Geisteswissenschaft oder in der Kultur ist es ja vielfach auch so, dass es kaum noch etwas wirklich Neues gibt. Es sind in der Regel alte Hüte, die nur immer wieder umgepresst und neu dra-piert werden. Es gibt Grundvisionen – diese Grundvisionen sind abhängig von den jeweiligen Grunderkenntnissen, Grundeinsichten oder Grundglaubensüberzeugungen, die diese Visionen im Prinzip prägen. In ihrer Ausformung sind Visionen natürlich auch ausgesprochen abhängig von der Zeitentwicklung, von der Kultur, vom politischen, vom wirtschaftlichen Umfeld. Nach meiner Auffassung sind unserer Gesellschaft zudem die großen Visionen verlorengegangen. Das hat zweifellos mit der historischen Entwicklung zu tun. Betrachten wir nur die gesellschaftlichen Grundsysteme der letz-ten 100 oder 150 Jahre, die Vision des Kaiserreichs oder die einer alten Monarchie. Das waren ja durchaus Visionen, wie sie teils auch Francke hatte. Der König oder das Haupt als erster Diener des Staates, dem Wohl des Staates verpflichtet, der nicht auf tausend Leute Rücksicht nehmen muss, sondern von seiner Stellung her viel Positives bewirken kann. Diese Vision ist ja nun wirklich nicht mehr vorhanden.

Bei uns, gerade in Deutschland, sind wir eben in 100 Jahren so schrecklich gebeutelt worden, dass wir ziemlich visionslos geworden sind. Das zeichnet uns oder belastet uns – je nachdem, wie man es sehen will, auch in Gesamteuropa. Es gibt vielleicht kein Volk, kein Gebiet, wo es zu so heftigen Desillusionierungen kam wie in Deutschland. Und seit dem Untergang des real existierenden Sozialismus fehlen die großen Visionen einfach. Das war ja eine letzte große und zudem eine Utopie, die theoretisch etwas für sich hatte. Ich habe mich mit überzeugten Marxisten, Kommunisten immer recht gut verstanden, trotz unterschiedlicher Standpunkte, weil ich sagen konnte (man hat es oft nicht gern gehört, aber man hat es dann auch zugegeben): Wir beide sind Gläubige, wir beide haben Visi-onen – eines Reiches Gottes im Himmel und, sagen wir es mal so plakativ, einer Art »Reich Gottes auf Erden«, wie der Marxismus es wollte. In der Bibel gibt es ein Wort: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Man muss sich dann einmal genau die Folgen anse-hen, wenn die Bindekraft ehemals großer Visionen nachlässt. Ein zerstörendes Element all dieser Visionen, ob sie nun religiös oder nicht religiös sind, ist aus meiner Sicht zweifellos das Geld und damit verbunden das Streben und Gieren nach einem Leben in großem Wohlstand.