Nr.2

INTERVIEW

Manfred von HellermannPhysiker

Ich habe mich für einen wesenlichen Teil meines Berufslebens mit der Spektroskopie in der Kernfusion beschäftigt. Die Erforschung und wissenschaftliche Arbeiten zur Kernfusion begannen Ende der 1950er Jahre. Die kontrollierte Kernfusion war einmal eine mögliche Alternative als Energiequelle, aber mittlerweile ist sie quasi zu einem Muss geworden. Dabei hat sich die Motivation in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben: »The fast track to nuclear fusion« wurde vor kurzem von Sir David King, dem wissenschaftlichen Ratgeber von Tony Blair, so formuliert: Um eine irreversible Klimaveränderung zu verhindern, brauchen wir die Kernfusion bis spätestens 2050/60.

Ich bin seit vier Jahren externer wissenschaftlicher Berater beim Kernfusions-Weltprojekt ITER 1, der in Frankreich gebaut wird. Zum ersten Mal seit dem Turmbau zu Babel kann man sagen: Die ganze Welt hat sich zu einem gemeinsamen Projekt entschlossen. Das geht jetzt Stück für Stück und zügig voran. Man geht davon aus, dass es technisch machbar ist und eine wichtige Vorstufe eines Demo-Reaktors und schließlich eines kommerziellen Energie-Reaktors sein wird. Energie, das ist unser natürliches Potenzial. Die Erde hat einen Energievorrat, wie z. B. Wasser, auf dem die Kernfusion beruht. Was kann man mit dieser Energie machen, kann man da die Effizienz steigern? Wie viel Energie brauchen wir, um einen Euro zu verdienen? Hierzu gibt es eine wunderbare weltweite Korrelation zwischen Bruttosozialprodukt und Energieverbrauch: Tatsächlich liegt die ganze Welt, von China bis zu den Vereinigten Staaten, auf einer perfekten Geraden, die abhängige Größe ist das Bruttosozialprodukt (Geld) und die unabhängige Größe ist die Energie. Das heißt, ausgehend von der Energie, die uns die Erde zur Verfügung stellt, fragt man: Wie viel Geld können wir damit möglichst effizient verdienen?

Ich sehe zudem einen wichtigen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst: Ein guter Physiker oder ein guter Wissenschaftler muss auch künstlerische Fähigkeiten haben, um sich darstellen zu können. Man muss den Mut haben, eine Sache deutlich zu machen, man muss übertreiben können. Ein guter Künstler muss sich von dem Objekt trennen können, er muss ja eine eigene Ansicht haben als Künstler. Genau das braucht man auch als Wissenschaftler: sich selbst in den Hintergrund stellen, sich sogar komisch finden können. So ein Forscherteam bedeutet außerdem, dass man möglichst alle Gedanken mit anderen austauscht, dass man sich bloßstellt, um neue Ideen zu diskutieren.

Zum Thema Kernfusion kann ich ganz nüchtern sagen, dass die-ses Projekt weitergemacht werden muss. Provokativ ausgedrückt: Wie können wir ein Land wie die Bundesrepublik mit Energie versorgen, wenn es frühestens 2050/60 mit alternativer Energie klappen wird, weil zur Zeit weder eine adäquate Infrastruktur noch eine akzeptable Speichermöglichkeit vorhanden sind? Es ist im Grunde erschreckend, wie wenig die alternativen Energien durchdacht sind.

Man hat erkannt, dass man eine ganz enge internationale Zusammenarbeit für die Kernfusion braucht. Dass man diese Gewissheit des Gelingens über mehrere Generationen nicht verliert, dass Länder wie China, Indien, Japan, Korea, Russland und Europa, Amerika sich zusammengetan haben, um gemeinsam das Projekt zu lösen, ist ja schon ein wichtiges politisches Zeichen! Dass es nicht leicht ist, ist eine andere Sache.

Man kann sich aber bezüglich einer Vision für die Menschheit grundsätzlich fragen: Welche Energiequellen sind möglich? Für mich scheint die Kernfusion die einzige Alternative zu sein. Die Frage lässt sich jedoch sehr schwer beantworten, denn wir wissen noch nicht: Welche Probleme sind zu erwarten, welche Probleme müssen wir alle noch lösen? Dass das Projekt Kernfusion in jeglicher Hinsicht, physikalisch, technologisch und vor allem auch organisatorisch, eine ungeheure Herausforderung ist, lässt sich nicht leugnen. Die Landung auf dem Mond ist im Vergleich dazu ein Spaziergang. Aber trotzdem – das ist meine wahrscheinlich grundsätzlich positive, optimistische Einstellung – sehe ich auch im Rückwärtsblick auf vier bis fünf Jahrzehnte Kernfusion: Da hat es gewaltige Fortschritte gegeben, erheblich schneller als sämtliche Computerentwicklungen (Mooresches Gesetz). Rückblickend sieht es absolut fantastisch, wie eine einzige Erfolgsstory aus. Aber man muss immer realistisch sein, kein Rückblick gibt eine Garantie für die Zukunft. Man muss immer sagen: Wenn alles so weitergeht, wie wir denken, dann scheint es so zu sein, dass wir alles Punkt für Punkt abhaken und erreichen können. So muss man das formulieren.

Natürlich folgte mein persönlicher Weg hierhin nicht der einen großen Vision, sondern ist ein völliger Zickzack gewesen. Doch dabei habe ich gelernt: Man kann tatsächlich mit einem ungeheuren Potenzial von Expertise etwas bewegen. Je mehr ich daran arbeite, umso überzeugter und auch begeisterter bin ich, weil mich dieser Punkt anregt, dass man so lange einer Sache folgt, dass man sagen kann: Das ist eine grundsätzlich tolle Idee und eine große Menschheitsvision. Da folgt man dem und bringt sich ein. Das bestätigt einen auch wahrscheinlich über die Zeit. Dabei wird die Physik immer komplexer. Das ist im Prinzip ein Schritt völlig weg vom 19. Jahrhundert, als man noch dachte, dass man jede physikalische Frage durch genau eine einzige Fragestellung und ein einziges entsprechendes Experiment beantworten könnte. Wir müssen davon ausgehen, dass wir letztlich – um es provozierend zu sagen – noch gar nicht alles wissen, wonach wir fragen.

Es ist im Grunde genommen ein faszinierendes Thema und auch das Thema der Ausstellung – Gewissheit und Vision. Ich glaube, was mich beschäftigt, ist: Wie entstehen Visionen? Zum Beispiel das Buch von Aldous Huxley, »Brave New World«. Er hat Visionen gehabt, wie die Welt später aussehen könnte. Wenn man so will, ist es ja fantastisch, was jemand in den 1920er Jahren geschrieben und wie viel sich davon erfüllt hat. Wie sich die Gesellschaft entwickelt, wie sie manipuliert wird – das alles war ja Huxleys Vision! Aber hat er das als Literat oder als Bruder eines Biologen gemacht? Das ist eine hochinteressante Frage im Zusammenhang mit dem Thema Gewissheit und Visionen.

Und Visionen in der Wissenschaft? Da haben wir einen ganz eigenen Zeithorizont; es funktioniert nicht so, dass man unmittelbar nach einem Knopfdruck sofort das Ergebnis hat. Gerade Kernfusion ist ein Generationenprojekt. Ich bin jetzt neunundsechzig, ich werde wahrscheinlich noch erleben, dass das Weltprojekt ITER in Betrieb geht, aber wahrscheinlich nicht mehr als das. Doch bin ich fest davon überzeugt, dass die nächste Generation weitermachen kann und wird. Man kann nie sagen, wer und wann genau, aber es gibt in jeder Generation begeisterungsfähige Physiker. Begeisterung ist ein wichtiges Wort! Und das heißt auch, dass diese sich für Visionen einsetzen können; der Fortschritt im wissenschaftlichen Bereich ist ein Weitertragen und beruht auf einer Kontinuität von Erfahrung und Wissen und, wenn man so will, Visionen.

Grundsätzlich bin ich eher gegen Menschen eingestellt, die nur pessimistisch und negativ sagen: In der Vergangenheit war alles gut, da waren die goldenen Zeiten und die neue Generation taugt nichts mehr. Ganz im Gegenteil, ich habe vollstes Vertrauen und Hoffnung darin, dass z. B. meine Enkeltochter Mathilde und ihr Vetter Pip dazu beitragen, dass das Wissen und die Erfahrung von heute mit Begeisterung in die Welt von morgen weitergetragen wird. Ich bin fest davon überzeugt, weil ich denke, dass es immer weitergeht. Jede Generation hat ihr Potenzial an Begeisterungs-fähigkeit. Das ist das Einzige, worauf es ankommt.

(1) ITER: International Thermonuclear Experimental Reactor, ein im Bau befindlicher Kernfusionsreaktor, mit dem notwendige Erkenntnisse auf dem Weg zu vielleicht möglichen Fusionskraftwerken gewonnen werden sollen. Vgl.: www.de.wikipedia.org/wiki/ITER und www.iter.org